Unsere Demokratie benötigt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
03. Juli 2024
Klima-Urteil bringt die Populistenseele zum Kochen
Seit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg entschieden hat, dass die Schweiz zu wenig für den Klimaschutz mache und deswegen die Menschenrechte verletze, gehen die Wogen hoch. In diesem Blog-Beitrag erläutere ich, weshalb die Schweizer Demokratie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte braucht und wir uns deshalb nüchtern mit dem Urteil auseinandersetzen sollten.
Menschenrechte in einer Demokratie mit Civil Law Rechtsphilosophie
Anders als in Ländern mit dem Common Law Rechtssystem (GB, USA usw.) basieren Länder mit der Civil Law Rechtsphilosophie (welches von Napoleon auf dem europäischen Kontinent verbreitet wurde) auf der Grundlage, dass nicht der Einzelne für seine individuellen Menschenrechte verantwortlich ist und sich bei der Verletzung dieser wehren muss, sondern dass der Staat die Verantwortung hat, die individuellen Menschenrechte aller Menschen zu gewährleisten und zu sichern.. Da der Staat jedoch demokratisch gesteuert wird, kann es vorkommen, dass die demokratische Mehrheit die Menschenrechte der demokratischen Minderheit verletzt. Die Schweiz hat mit solchen - demokratisch abgesegneten - Menschenrechtsverletzungen eine lange Tradition: Das von den Männern verweigerte Stimmrecht für die Frauen stellte nur eine solche Menschenrechtsverletzung dar.
Andere Staaten mit der Civil-Law-Rechtsphilosophie haben für solche Fälle ein Verfassungsgericht. An dieses können Menschen eines solchen Staates gelangen, wenn durch demokratische Mehrheiten Gesetze beschlossen werden, die die in der Verfassung gewährten Menschenrechte verletzen. Die Schweiz hat kein solches Gericht. Deshalb können Schweizerinnen und Schweizer in der Schweiz nicht gegen demokratisch beschlossene Verletzungen der Menschenrechte vorgehen.
Dieser Zustand gefällt den Populisten sehr: Sie argumentieren, dass demokratisch beschlossene Entscheidungen gerecht seien und deshalb über allem stehe. Grundsätzlich sind demokratische Entscheidungen sicherlich zu respektieren. Nur vergessen die Populisten, dass die universellen, individuellen Menschenrechte auch nicht von demokratischen Entscheiden ausser Kraft gesetzt werden können: Diese stehen über Allem,.
Schutz vor den Folgen des Klimawandels - ein individuelles Menschenrecht?
Das Besondere an diesem Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist die Entscheidung des Gerichts, dass der Schutz vor den Folgen des Klimawandels ein individuelles Menschenrecht sei, das ein Staat schützen muss. Und sich die Schweiz deshalb stärker für den Klimaschutz einsetzen müsse. Unabhängig, wie man diese Entscheidung inhaltlich beurteilt (bedroht der Klimawandel die Menschenrechte z.B. das Recht auf Leben, wenn es in den Städten so heiss wird, dass ältere Menschen ein erhöhtes Sterberisiko haben), so greift das Urteil nicht in die gesetzgeberische Hoheit der Schweiz ein: Die Richterinnen und Richter in Brüssel sagten nämlich nicht, was die Schweiz machen müsse (das ist und bleibt Aufgabe unserer nationalen Parlamente und der Bundesverwaltung als operativem Arm des Staates). Dass die Schweiz zu wenig bezüglich des Klimaschutzes unternimmt, wird auch deutlich, wenn die offiziellen Klimaziele des Bundes mit den tatsächlich erreichten Ergebnissen verglichen werden. Um zu erkennen, dass die Schweiz mehr unternehmen muss, braucht es also kein Gericht und der Entscheid des Gerichts gibt nur offensichtlich Bekanntes wieder (vgl. auch Republik.ch vom 22.4.24: Ein Urteil geht um die Welt). Zumal eine solche Verurteilung vor allem symbolischen Charakter hat: Es gibt keine Geldbusse noch muss jemand wegen der Versäumnisse ins Gefängnis.
Deshalb ist es heuchlerisch und vom eigenen Versagen ablenkend, wenn die Mehrheit in unseren Parlamenten nun auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schimpft und sogar fordert, dass die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention kündigt. Was die Schweiz auf eine Stufe mit Staaten wie Russland oder Belarus stellen würde, in welchen die Menschenrechte der Bürgerinnen und Bürger vom Staat weder anerkannt noch geschützt werden. Wollen wir dies wirklich?
Die Schweiz - eine demokratische Willensnation mit strukturellen Schwächen
Die Schweiz ist eine demokratische Willensnation, die aus lauter Einzelstaaten (den Kantonen) besteht. Und auch fast 180 Jahren nach dem Sonderbundskrieg sind in den katholischen Kantonen starke Vorbehalte gegenüber den reformierten Kantonen spürbar. Genauso wie es starke Vorbehalte in den ländlich geprägten Regionen gegenüber den urbanen Zentren gibt. Diese Gräben innerhalb der Schweiz werden von Populisten kontinuierlich bewirtschaftet: Unzufriedenheit, Misstrauen und Ängste stärken die Position von populistischen Stimmungsmachenden, die von einer Autokratie träumen.
Stärken wir die wehrhafte Demokratie unter dem Schutz des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte!
Die Schweiz ist eine Willennation mit sehr vielen Minderheiten. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich zu dieser bekennen und eine hohe Verbundenheit zu ihr aufweisen. Dies geschieht nur, wenn alle Menschen in der Schweiz die Gewissheit haben können, dass ihre universalen und unbestreitbaren Menschenrechte nicht von einer demokratischen Mehrheit verletzt werden. Und falls dies doch einmal geschieht, dass es für diesen hoffentlich seltenen Fall eine Instanz gibt, die die Schweiz dann darauf hinweist, dass diese Verletzung der Menschenrechte nicht statthaft ist. Eine solche Gewähr bietet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.